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Bitte Nicht Freundlich

Von Sarah Schmidt

Leseprobe:


ULLI ZELLE, DER "PLAYBOY" UND DIE GEZ

Neulich bekam ich Post. Eigentlich freue ich mich immer, wenn der Briefträger hoch zu mir in den dritten Stock kraxelt, und sich dann am Briefschlitz meiner Tür zu schaffen macht. Denn ich bekomme im allgemeinen sehr gerne Post. Sogar über Rechnungen und Werbung freue ich mich.

Doch dieser Brief kam von der GEZ, der Geldeinziehzentrale der öffentlich-rechtlichen Fernsehmafia. Immer wieder schicken sie mir Briefe, manchmal kommen sie auch persönlich vorbei, um mich inflagranti beim fernsehen zu erwischen. Einmal schrie mich einer durch meinen Briefschlitz an, er würde jetzt die Polizei holen, damit die meine Tür aufbrechen und den Fernsehapparat finden, den ich doch haben müsse. So ein Vorgehen sagt doch alles über die Seriosität dieses Unternehmens aus. Ich schmeiße Briefe der GEZ ungeöffnet in den Müll. Zum einen, weil ich die Aufmachung der Briefe eine Unverschämtheit finde, diese Umschläge, die mir suggerieren sollen “Wir sind eine wichtige staatliche Behörde“, obwohl das gelogen ist, und zum anderen, weil ich kein Fernsehen gucke. Oder zumindest nur ganz, ganz wenig. Um mal wieder zu sehen, ob sich dort etwas verändert hat. Hat es aber eigentlich nie, immer läuft der „Musikantenstadl“ oder „Panda, Gorilla & Co“ oder Maybritt Illner. Für alle diese Sendungen zahle ich sowieso schon. Unsere Politiker, die bei Maybritt sitzen, erhalten unter anderem von mir ihr Gehalt, den Zoo subventioniere ich als Berlinerin natürlich mit meinen Steuern, ab und an zusätzlich mit einer Eintrittskarte und Knut-Gummibären habe ich auch schon mal gekauft, und Musik, die kaufe ich mir manchmal in Musikgeschäften. Gut, nichts dabei aus der Riege des Musikantenstadls, aber immerhin Musik.

Ich sehe also überhaupt keine Veranlassung, dies alles noch mal zu unterstützen, indem ich GEZ-Gebühren zahle.
Der einzige, für den ich sehr gerne Gebühren zahlen würde, ist Ulli Zelle von der „Abendschau“. Denn den bewundere ich. Anlässlich diesen Textes habe ich einen Freund gebeten, mir eine Woche lang die „Abendschau“ aufzunehmen, damit ich schreiben kann, was der Ulli innerhalb von einer Woche alles macht. Leider hatte Ulli genau in dieser Woche frei oder war krank, aber sonst ist der so was von unermüdlich unterwegs in unserer Stadt, das ist bewundernswert. Ulli ist zuständig für die Außenreportagen und wahrscheinlich ist er der einzige festangestellte Mitarbeiter des rbb. In dieser Aufgabe geht er in nur fünf Tagen zur grünen Woche, zum Tina Turner Konzert, trifft sich auf einem Dach mit einem Schornsteinfeger, besucht die Eisschwimmer vom Orankesee, steht im U-Bahnhof Altmariendorf und erzählt uns von den dortigen Bauarbeiten, besucht und berichtet über den Presseball, ist auf der Präsentationen der neuesten Flughafen-Tempelhof-Ideen vor Ort, sucht das Gespräch mit Lottospielern über ihre Chance auf den Jackpot und empfängt vor einer Schule Kinder, die ihre Halbjahres-Zeugnisse in der Hand halten. Ulli Zelle macht all diese Sachen, von denen eigentlich niemand etwas wissen will und von denen ich, wenn nur ein oder zwei dieser Termine in meinem Kalender stehen würden, sehr schlechte Laune bekäme oder sogar eine Krankheit, die mich für immer ans Bett fesselt. Ulli übernimmt alles widerliche und nervige in der Stadt, so dass wir uns darum nicht kümmern müssen und er ist dabei immer erstaunlich fröhlich. Nicht übertrieben, so dass man ihn nicht ertragen könnte, nein, er hat eine freundliche Ruhe in sich, die ich beneide. Für Ulli also würde ich gerne zahlen. Aber nur an ihn persönlich, gerne verbunden mit einer kleinen Reportage. Ansonsten aber kann mich die GEZ mal.

Im „Playboy“ sah ich mich übrigens bestätigt. Der „Playboy“, das Magazin für den interessierten Literaturliebhaber, hat eine bundesweite Umfrage durchgeführt, welche Berufsgruppen bei Frauen als Geschlechtspartner unbeliebt sind. Gerichtsvollzieher standen ganz weit oben, Justizbeamte und Metzger will auch kaum eine Frau im Bet haben. Obwohl ich das mit den Metzgern nicht so recht verstehe, denn die können doch zumindest mit Fleisch gut umgehen. Im Großen und Ganzen gibt es keine Unterschiede in den Bundesländern. In Bayern sind Zuhälter zum Beispiel genauso unbeliebt wie in Sachsen-Anhalt und auch Bestattungsunternehmer gelten quer durch das Land als unerotisch. Nur Berlin weist eine Besonderheit auf. Hier nämlich hassen die Frauen eine Berufsgruppe ganz besonders: die GEZ-Mitarbeiter.

Und das ist doch irgendwie wieder gerecht, finde ich. Vielleicht geht Ulli Zelle ja mal bei einer Frau vorbei und fragt sie, warum das wohl so ist. Ich würde mich anbieten.

 

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Bad Dates

Von Sarah Schmidt

Ausschnitt aus der Geschichte „Ruf mich an!“

Ein paar Mal im Jahr habe ich das große Bedürfnis mein Leben komplett neu zu ordnen. Das funktioniert am besten mit einem System. Meines basiert auf Sammelschachteln.
Dazu verteile ich Schachteln an strategisch wichtigen Stellen in der gesamten Wohnung, werfe wochenlang alles hinein, was im Alltag anfällt, aber stört. Schon herrscht die Illusion von Ordnung in der Wohnung. Wichtig ist es, die Kisten groß und deutlich zu beschriften und abzustauben.
Vor einigen Wochen war es wieder einmal soweit - ich schaute in diese Kisten hinein. Diesmal hatte ich mir zwei Kartons vorgenommen. In dem einen sammelte ich unbezahlte Rechnungen, in dem anderen alte Liebesbriefe. Ich sah mir zwei Rechnungen kurz an, dachte: „Oh Mann, oh Mann, wie soll ich das nur alles bezahlen?“, dann legte ich schnell eine neue Kiste an, beschriftete sie mit „Abwarten“, und verstaute sämtliche Rechnungen darin.
Danach kramte ich zur Entspannung und Ablenkung in den alten Liebesbeweisen.
Dabei fand ich einen kleinen, längst vergilbten Zettel, auf dem stand: „Hallo Sarah! Ruf mich bitte nie wieder an! Lutz.“
Sonst nichts. Das Wort „Bitte“ war mehrfach unterstrichen. Wer war noch mal Lutz? Ich musste eine Weile überlegen, denn ich habe es mir in den vergangenen Jahrzehnten mit einigen Männern verdorben.
Plötzlich wusste ich es wieder. Oh, Gott. Es hatte schon seinen Grund, warum ich Lutz Bodorowski vergessen wollte. Er war mein privates Armageddon, meine Titanic, mein totales und absolutes Versagen. Denn Lutz wollte mich nicht. In keiner Hinsicht. Ich war 15, er 17 und ich konnte nicht fassen, dass ich abgewiesen wurde. Ich meine: „Ich war schließlich ich! Bezaubernd. Gutaussehend. Charmant. Unwiderstehlich! Hast du gehört? Na bitte, dann verhalte dich auch entsprechend!“ – so dachte ich in meinem jugendlichen Selbstbewusstsein und machte mich an ihn ran.
Er übersah mich.
Ich schrieb ihm Briefe.
Er zeriss sie.
Ich weinte.
Er lachte.
Also beschloss ich zu sterben und legte mich nachts auf die Schmargendorfer Hauptverkehrsstraße, um mich überfahren zu lassen. Nach einer Viertelstunde stand ich wieder auf, denn kein einziges Auto kam und mir wurde langweilig.
Ich hasste Schmargendorf.
Lutz liebte den Bezirk.
Dann wurde ich renitent. Ich rief ihn an. Oft. Sehr oft. Irgendwann schließlich bekam ich diesen kleinen, blöden Zettel von ihm zugesteckt und begriff, es war hoffnungslos. Ich kann allerdings nicht gut verlieren. Grade in so wichtigen Fragen wie Liebe sehe ich überhaupt nicht ein, warum ich verlieren können sollte. Daher vergaß ich ihn einfach. Das war nicht allzu schwer, denn direkt neben unserer Wohnung befand sich ein Lehrlingsheim, in dem rund neunzig einsame Jungen im besten Alter wohnten. Ein dankbares Gebiet, um Liebeskummer zu vergessen.
Bald darauf zogen wir aus Schmargendorf weg und mein Leben wurde wirklich schön. Jetzt aber saß ich in meinem Zimmer mit diesem Brief in der Hand. „Ruf mich bitte nie wieder an!“ Na, der war ja wohl ein Spinner! Wann und ob ich anrufe, das bestimme immer noch ich.
Ich schnappte mir das Telefonbuch und fand seinen Namen sofort.
„Ja hallo Lutz, hier ist Sarah.“ (...)

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Dann machen wir's uns eben selber

Ausschnitt aus dem Roman

Von Sarah Schmidt

Berlin machte es seinen Bewohnern im Winter besonders schwer, die Stadt zu lieben oder sie auch nur zu mögen. Durch die unzähligen Kachelöfen, die sowohl im Westteil als auch im Osten der Stadt mit allen möglichen und unmöglichen Brennstoffen befüllt wurden, hing bei ungünstiger Wetterlage eine dichte, gelblich graue Dreckwolke über der Stadt, die dem Geruch und Aussehen nach die Vermutung nahe legte, Berlin würde hauptsächlich mit Autoreifen geheizt. Begriffe wie Inversionswetterlage benutzten wir mittlerweile ebenso routiniert wie Bequerel und Radium. Jeder, der es sich leisten konnte, versuchte im Januar und Februar aus Berlin zu flüchten.

Diese Zeit, in der die Stadt in einem immer währenden schwefligem Zwielicht versank, war kaum zu ertragen.

Bonnis Ranch, die Nervenheilanstalt in Wittenau, war in dieser Zeit ähnlich überfüllt mit Depressiven und Selbstmordgefährdeten wie das Tierheim Lankwitz mit Hunden und Meerschweinen in der ersten Sommerferienwoche.

Die grauen Häuser und Straßen, die kahlen Bäume und die Stimmung der Berliner gingen nahtlos ineinander über und verursachten bei jedem, der sich nicht unaufhörlich mit Drogen zudröhnte, eine tiefe Depression.

Für Josy und mich hielt schon der Dezember kaum etwas Schönes bereit. Luzy hatte mit ihren Fieberschüben und einer ständig laufenden Rotznase zu tun, was sich auf ihre Stimmung schlug.

Unsere Wohnung erschien mir immer mehr wie ein Strafgefangenenlager für Kleinkinder und blasse Mütter. Ständiges Geheule, Gejammere und Gegreine raubte uns den letzen Nerv. Oskar und Luzy stritten statt zu spielen, verweigerten die Nahrung und wuchsen in diesem ganzen Monat nicht einen verdammten Zentimeter. Die Spielplätze von Kreuzberg hatten sich längst in verregnete Matschsuhlen verwandelt, und die Smogwerte, die im Tagespiegel veröffentlicht wurden, gehörten zur täglichen Morgenlektüre.

Unser erstes gemeinsames Weihnachten wurde von allen Vieren mehr ertragen als genossen. Die Pakete, die unsere Eltern ihren Enkeln schickten, gehörten zu den wenigen Lichtblicken.

Die darin gefundenen Schätze beschäftigen die Kinder eine Weile, Josy und ich fraßen uns durch Berge von Dominosteinen, Lebkuchen und Marzipankartoffeln, während wir uns am Küchentisch die Briefe unserer Eltern gegenseitig vorlasen.

„Hör mal“, Josy schmatzte laut, als sie in eine Kirschbombe biss, „unsere Eltern müssten sich eigentlich kennen, so ähnlich wie sich ihre Weihnachtsvorwürfe anhören: Was macht deine Arbeitssuche? Bekommt das Kind auch genug Vitamine? Warum hast du dich von Georg getrennt, er ist doch schließlich der Vater deines Kindes? Bla Bla Bla.“

Ich schlürfte einen Schluck heißen Kakao aus der Tasse, die vor mir stand.

„Wir könnten ja deinen Vater mit meiner Mutter verkuppeln, dann wäre mal was los bei den Familien Weingärber und Morris.“

„Also das kann ich leider nicht verantworten, ich versteh ja schon nicht, wie meine Mutter es mit ihm aushält. Außerdem wäre ich dann verantwortlich dafür, daß mein Alter auch noch das Leben deiner Mutter in ein Jammertal verwandelt.“ Sie nahm Luzy auf ihren Schoß. „Ehrlich gesagt, ist es ein Wunder, wie diese beiden eine so wunderbare Tochter wie mich überhaupt fabrizieren konnten.“

„Na, um meine Mutter musst du dir keine Sorgen machen, die hat bisher noch jedem die Hölle auf Erden bereitet.“

Ich wechselte das Thema.

„Hast du Geld geschickt bekommen?“

Josy nahm Luzys Hände in ihre und klatschte sie zusammen, während sie anfing zu singen.
„Ich hab’ noch niiiiiiiieeeeeee einen Pfennig bekommen, keine müde Mark, never, nix, niente.“
Luzy hüpfte im Takt auf ihren Beinen und Oskar, der bislang mit dem Packpapier beschäftigt war, krabbelte auf meinen Schoß.

„Und du, schenken dir deine Eltern Geld?“

„Nö, ich habe ein tolles Bügeleisen bekommen. Meine Mutter meint, wenn sie mir Geld gäbe, wird nie was aus mir, aber ein Bügeleisen, das sei ein Garant für einen Mann. Wenn mich nämlich mal einer besuchen sollte und meine gebügelte Wäsche sieht, denkt er, ich wäre eine solide Partie und heiratet mich. Das glaubt sie wirklich!“

Josy wurde ernst. „Ich habe meine Alten nach Geld gefragt. Zum ersten Mal in meinem Leben, ich hab meine Eltern angerufen und total geschleimt. Gebettelt habe ich, damit die mir was schicken und Luzy für ein paar Wochen aus der Stadt rauskommt. Und weißt du, was mein Vater daraufhin gesagt hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„,Meine liebe Josefine‘, sagte mein Alter in seinem ätzendstem Tonfall, ,wir haben uns vor Jahren entschlossen, uns nicht in das Leben unserer Kinder einzumischen. Dazu gehört auch, dass du Verantwortung für deine Tochter übernimmst. Du bist alt genug. Und außerdem – dein Bruder Daniel hat uns auch noch nie nach Geld gefragt!‘“

„Echt?“

Sie nickte, während sie Kekskrümel auf dem Küchentisch zusammenschob.

„Nicht erwähnt hat er, dass mein Superbruder Daniel Chemiefabriken in die Dritte Welt verhökert und damit zehnmal mehr Kohle im Monat verdient, als mein Vater in einem Jahr.“

„Das ist so typisch Eltern. Sollen wir nicht einfach abhauen? Ich meine, ich hab zwar auch kein Geld, aber wenn wir unsere Sozialhilfe zusammenschmeißen, reicht’s vielleicht für ein paar Wochen.“

Ich redete mich in Rage.

„Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass unsere Kinder dermaßen leiden, nur weil wir pleite und alleinerziehend sind. Das kotzt mich so an! Die beiden werden uns später ihr Leben lang vorwerfen, wir hätten uns nicht genug um ihre Gesundheit gesorgt, wenn wir jetzt nichts tun. Irgendeine billige Pension finden wir doch bestimmt.“

„Meinst du?“

„Josy, dieses Leben hier sollten wir auf keinen Fall weiter aushalten! Das ist doch unwürdig! Erniedrigend! Außerdem, ich finde, dein Vater hat irgendwie auch recht.“

Ich wusste, auf welch schwieriges Terrain ich mich mit diesem Satz begab, aber ich hatte in den vergangenen Wochen immer wieder hin und herüberlegt. Den Kindern musste geholfen werden und die einzigen, die sich darum kümmern würden, waren Josy und ich.

 

Dann machen wir's uns eben selber

Ausschnitt aus dem Roman

Von Sarah Schmidt

Berlin machte es seinen Bewohnern im Winter besonders schwer, die Stadt zu lieben oder sie auch nur zu mögen. Durch die unzähligen Kachelöfen, die sowohl im Westteil als auch im Osten der Stadt mit allen möglichen und unmöglichen Brennstoffen befüllt wurden, hing bei ungünstiger Wetterlage eine dichte, gelblich graue Dreckwolke über der Stadt, die dem Geruch und Aussehen nach die Vermutung nahe legte, Berlin würde hauptsächlich mit Autoreifen geheizt. Begriffe wie Inversionswetterlage benutzten wir mittlerweile ebenso routiniert wie Bequerel und Radium. Jeder, der es sich leisten konnte, versuchte im Januar und Februar aus Berlin zu flüchten.

Diese Zeit, in der die Stadt in einem immer währenden schwefligem Zwielicht versank, war kaum zu ertragen.

Bonnis Ranch, die Nervenheilanstalt in Wittenau, war in dieser Zeit ähnlich überfüllt mit Depressiven und Selbstmordgefährdeten wie das Tierheim Lankwitz mit Hunden und Meerschweinen in der ersten Sommerferienwoche.

Die grauen Häuser und Straßen, die kahlen Bäume und die Stimmung der Berliner gingen nahtlos ineinander über und verursachten bei jedem, der sich nicht unaufhörlich mit Drogen zudröhnte, eine tiefe Depression.

Für Josy und mich hielt schon der Dezember kaum etwas Schönes bereit. Luzy hatte mit ihren Fieberschüben und einer ständig laufenden Rotznase zu tun, was sich auf ihre Stimmung schlug.

Unsere Wohnung erschien mir immer mehr wie ein Strafgefangenenlager für Kleinkinder und blasse Mütter. Ständiges Geheule, Gejammere und Gegreine raubte uns den letzen Nerv. Oskar und Luzy stritten statt zu spielen, verweigerten die Nahrung und wuchsen in diesem ganzen Monat nicht einen verdammten Zentimeter. Die Spielplätze von Kreuzberg hatten sich längst in verregnete Matschsuhlen verwandelt, und die Smogwerte, die im Tagespiegel veröffentlicht wurden, gehörten zur täglichen Morgenlektüre.

Unser erstes gemeinsames Weihnachten wurde von allen Vieren mehr ertragen als genossen. Die Pakete, die unsere Eltern ihren Enkeln schickten, gehörten zu den wenigen Lichtblicken.

Die darin gefundenen Schätze beschäftigen die Kinder eine Weile, Josy und ich fraßen uns durch Berge von Dominosteinen, Lebkuchen und Marzipankartoffeln, während wir uns am Küchentisch die Briefe unserer Eltern gegenseitig vorlasen.

„Hör mal“, Josy schmatzte laut, als sie in eine Kirschbombe biss, „unsere Eltern müssten sich eigentlich kennen, so ähnlich wie sich ihre Weihnachtsvorwürfe anhören: Was macht deine Arbeitssuche? Bekommt das Kind auch genug Vitamine? Warum hast du dich von Georg getrennt, er ist doch schließlich der Vater deines Kindes? Bla Bla Bla.“

Ich schlürfte einen Schluck heißen Kakao aus der Tasse, die vor mir stand.

„Wir könnten ja deinen Vater mit meiner Mutter verkuppeln, dann wäre mal was los bei den Familien Weingärber und Morris.“

„Also das kann ich leider nicht verantworten, ich versteh ja schon nicht, wie meine Mutter es mit ihm aushält. Außerdem wäre ich dann verantwortlich dafür, daß mein Alter auch noch das Leben deiner Mutter in ein Jammertal verwandelt.“ Sie nahm Luzy auf ihren Schoß. „Ehrlich gesagt, ist es ein Wunder, wie diese beiden eine so wunderbare Tochter wie mich überhaupt fabrizieren konnten.“

„Na, um meine Mutter musst du dir keine Sorgen machen, die hat bisher noch jedem die Hölle auf Erden bereitet.“

Ich wechselte das Thema.

„Hast du Geld geschickt bekommen?“

Josy nahm Luzys Hände in ihre und klatschte sie zusammen, während sie anfing zu singen.
„Ich hab’ noch niiiiiiiieeeeeee einen Pfennig bekommen, keine müde Mark, never, nix, niente.“
Luzy hüpfte im Takt auf ihren Beinen und Oskar, der bislang mit dem Packpapier beschäftigt war, krabbelte auf meinen Schoß.

„Und du, schenken dir deine Eltern Geld?“

„Nö, ich habe ein tolles Bügeleisen bekommen. Meine Mutter meint, wenn sie mir Geld gäbe, wird nie was aus mir, aber ein Bügeleisen, das sei ein Garant für einen Mann. Wenn mich nämlich mal einer besuchen sollte und meine gebügelte Wäsche sieht, denkt er, ich wäre eine solide Partie und heiratet mich. Das glaubt sie wirklich!“

Josy wurde ernst. „Ich habe meine Alten nach Geld gefragt. Zum ersten Mal in meinem Leben, ich hab meine Eltern angerufen und total geschleimt. Gebettelt habe ich, damit die mir was schicken und Luzy für ein paar Wochen aus der Stadt rauskommt. Und weißt du, was mein Vater daraufhin gesagt hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„,Meine liebe Josefine‘, sagte mein Alter in seinem ätzendstem Tonfall, ,wir haben uns vor Jahren entschlossen, uns nicht in das Leben unserer Kinder einzumischen. Dazu gehört auch, dass du Verantwortung für deine Tochter übernimmst. Du bist alt genug. Und außerdem – dein Bruder Daniel hat uns auch noch nie nach Geld gefragt!‘“

„Echt?“

Sie nickte, während sie Kekskrümel auf dem Küchentisch zusammenschob.

„Nicht erwähnt hat er, dass mein Superbruder Daniel Chemiefabriken in die Dritte Welt verhökert und damit zehnmal mehr Kohle im Monat verdient, als mein Vater in einem Jahr.“

„Das ist so typisch Eltern. Sollen wir nicht einfach abhauen? Ich meine, ich hab zwar auch kein Geld, aber wenn wir unsere Sozialhilfe zusammenschmeißen, reicht’s vielleicht für ein paar Wochen.“

Ich redete mich in Rage.

„Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass unsere Kinder dermaßen leiden, nur weil wir pleite und alleinerziehend sind. Das kotzt mich so an! Die beiden werden uns später ihr Leben lang vorwerfen, wir hätten uns nicht genug um ihre Gesundheit gesorgt, wenn wir jetzt nichts tun. Irgendeine billige Pension finden wir doch bestimmt.“

„Meinst du?“

„Josy, dieses Leben hier sollten wir auf keinen Fall weiter aushalten! Das ist doch unwürdig! Erniedrigend! Außerdem, ich finde, dein Vater hat irgendwie auch recht.“

Ich wusste, auf welch schwieriges Terrain ich mich mit diesem Satz begab, aber ich hatte in den vergangenen Wochen immer wieder hin und herüberlegt. Den Kindern musste geholfen werden und die einzigen, die sich darum kümmern würden, waren Josy und ich.